Ist Teilzeit das neue Vollzeit?
So kommt es mir jedenfalls in meiner Arbeit als Job- und Karrierecoach immer häufiger vor.
Immer mehr Menschen äußern den Wunsch ihre Arbeitszeit zu reduzieren um… ja um was eigentlich? Und da kommen wir an den wirklich interessanten Punkt: Denn es geht längst nicht mehr nur um Mütter, die ihre Kinder betreuen möchten bzw. müssen, denn das „um“ ist in den letzten Jahren weitaus vielfältiger geworden. Und das ist gut so!
Aber es gibt auch durchaus einen bedenklichen Trend. Dann nämlich, wenn man Teilzeit eigentlich nur in Betracht zieht, weil man es in Vollzeit einfach nicht mehr aushält. Weil man feststellt, dass das Wochenende zur Erholung nicht mehr ausreicht. Weil man zu erschöpft ist und einfach nur weg will.
Bei vielen Menschen, die ich kennengelernt habe, lag die Ursache aber eher im umgekehrten Fall. Der Job macht Spaß, deckt aber nicht alle Facetten ab, die man sich im Job wünscht.
Hier mal ein paar gute (!) Gründe für einen Teilzeitjob. Mitarbeiter*innen entscheiden sich für einen Teilzeit-Job um…
- mehr Freiraum für Interessen zu haben, die im aktuellen Job keinen Platz finden
- einfach mehr Zeit für sich selbst und ein entschleunigteres Leben zu haben
- sich ehrenamtlich für einen guten Zweck zu engagieren
- nebenberuflich zu gründen
- sich auf eine angestrebte Selbstständigkeit in Ruhe vorzubereiten
- sich um einen pflegebedürftigen Elternteil zu kümmern
- das eigene Kind oder die eigenen Kinder zu betreuen
Manche Mitarbeiter*innen wissen auch noch gar nicht, wofür sie die freie Zeit genau einsetzen möchten, wenn sie einen Antrag auf Teilzeit stellen. Aber was klar ist: Der Hauptjob allein reicht nicht aus, um erfüllt zu sein, allen Interessen nachzugehen oder den eigenen Verpflichtungen nachzukommen. Irgendwas fehlt und diese Lücke möchte man schließen.
Vielleicht. Aber eines, das sich deutlich auf den Vormarsch befindet. Vor ein paar Jahren war das noch anders und leider haftet auch heute in vielen Köpfen noch das Mutti-Image an, wenn sie an Teilzeit denken. Paradoxerweise wird dieses Image nicht mal den Müttern selbst gerecht. Doch sobald eine Frau Kinder hat, kann man ja noch nachvollziehen, warum sie in Teilzeit arbeiten möchte – aber alle anderen? Das ist für einige leider immer noch schwer vorstellbar.
Ich kann mich noch gut an eine Situation vor ein paar Jahren erinnern, als ich selbst noch angestellt war und meine Arbeitskollegin (35) mir damals beinahe empört davon erzählte, dass eine ihrer Freundinnen ihre Arbeitszeit reduziert hätte – und zwar mit Anfang 40 und ohne Kinder. Begründung: Wir haben so ein großes Haus und ich schaff die Hausarbeit sonst einfach nicht und ich möchte auch nicht meine Wochenenden nur mit Putzen verbringen. Für mich nachvollziehbar. Erwartungsvoll sah meine Kollegin mich an, während ich in Gedanken immer noch nach dem Grund ihrer Empörung suchte. Als ich nichts sagte, redete sie weiter auf mich ein. „Man kann doch in dem Alter nicht einfach in Teilzeit arbeiten, wenn man keinen Grund – sprich mindestens ein Kind – hat“, sagte sie aufgebracht.
Ich fragte mich: Warum sollte das nicht gehen?
Aber zunächst zu einem anderen Beispiel in einem anderen Unternehmen:
„Wenn ich 50 bin, arbeite ich nur noch in Teilzeit“ sagte meine Arbeitskollegin (39) plötzlich und schaute über ihren Bildschirm zu mir herüber. „Warum?“ fragte ich sie neugierig. „Na damit ich endlich mal was vom Leben habe! Meinst du ich will hier bis zur Rente versauern???“ Oh ha, das war mal eine Ansage. „Und warum dann erst mit 50? Warum reduzierst du nicht jetzt schon deine Arbeitszeit?“, fragte ich sie. Sie sah mich an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte. „Ja, ich kann doch nicht mit Ende 30 einfach so in Teilzeit gehen. Ich muss erst einmal was leisten!“ lachte sie schrill auf.
Ich fragte mich: Leiste ich also nur, wenn ich in Vollzeit arbeite?
Zwei Geschichten die zeigen, wie viele Arbeitnehmer*innen noch immer in alten Denkstrukturen verhaftet sind. Denn eins vorweg: Natürlich leistet man nicht nur in Vollzeit und doch erweckt es manchmal so den Eindruck. Die folgende Situation haben bestimmt einige von uns schon mal erlebt: Man hat Abends was vor und geht ausnahmsweise pünktlich oder eventuell auch schon früher nach Hause. Gut gelaunt fährt man den Rechner herunter, schnappt sich seine Jacke und wünscht den Kolleg*innen einen schönen Feierabend und ruft „Bis morgen“ in die Runde. Mindestens eine*r ruft hämisch zurück „Na Teilzeit-Job?“ und sorgt mit dem Kommentar dafür, dass man das Büro mit einem schlechten Gefühl verlässt.
Geschichten wie diese gehören zum Glück immer häufiger der Vergangenheit an und doch gibt es sie leider noch. Dabei sind Mitarbeiter*innen in Teilzeit oft sogar effizienter. Sie haben einfach nicht so viel Zeit zu verlieren, um ihre Aufgaben zu bewältigen. Das merken auch viele Führungskräfte und trotzdem gibt es dieses Spannungsfeld zwischen den nachweislichen Vorteilen einer Teilzeittätigkeit und dessen Image im Büroalltag.
Was es braucht um dieses zu beseitigen? Vorbilder! So wie den Managing Director Heiko Hambrock von der EWE Go GmbH, der Anfang des Jahres seine Arbeitszeit um 20 Prozent reduziert hat. Seine Beweggründe? «Ich habe mich entschieden, dass ich mit meiner Lebenszeit auch noch ein paar andere Dinge – außer so viel zu arbeiten – machen möchte.», sagt der 50-Jährige. Bravo. Das finden auch die Nutzer bei LinkedIn, die den Beitrag kommentieren.
Das Beispiel zeigt, dass der Wunsch weniger zu arbeiten längst nicht nur ein Thema der Generation Y, sondern auch in anderen Generationen angekommen ist. Man möchte einfach nicht mehr alle Interessen und Träume bis zur Rente aufschieben. Davon profitieren letztendlich auch die Unternehmen. Jemand der sich neben dem Job noch in anderen Bereichen ausleben darf und zum Beispiel nebenberuflich gründet, ist nicht nur zufriedener, sondern sammelt nicht selten auch wichtige Kompetenzen, die ihm oder ihr wiederum im Job zu Gute kommen.
Leider sind jedoch mit dem Stellen eines Teilzeitantrages auch Ängste verbunden. „Bin ich dann abgeschrieben, wenn ich nicht mehr in Vollzeit arbeite?“, „Bekomme ich überhaupt noch spannende Projekte zugeteilt?“ und „Katapultiere ich meine Karriere damit nicht auf das Abstellgleis?“. Fragen, die viele beschäftigen und zwar manchmal leider nicht zu Unrecht. Davon können Mütter und Väter wohl ein Lied singen.
Hier bedarf es unbedingt Aufholarbeit und ein Paradigmenwechsel im Denken!
Unternehmen sollten ihren Mitarbeiter*innen mehr Möglichkeiten schaffen in Teilzeit zu arbeiten – und zwar auf allen Hierarchieebenen, um das Mutti-Image aufzuheben. Es reicht nicht aus, wenn solche Angebote aus Imagegründen implementiert, aber nur auf den unteren Level gelebt werden.
Auch auf gesetzlicher Ebene bedarf es Anpassungen wie das Beispiel von Westwing-Gründerin Delia Lachance zeigt. Im Jahr 2020 hat sie ihren Mutterschutz und die sechsmonatige Elternzeit begonnen und musste dafür ihr Amt als Vorstandsmitglied niederlegen. Denn arbeitsrechtlich gelten Vorstände von Aktiengesellschaften nicht als Arbeitnehmer*innen und haben damit auch keinen Anspruch auf Mutterschutz oder Elternzeit.
Job-Tandems können eine gute Möglichkeit sein, um auch Führungskräften eine Teilzeitstelle anbieten zu können und verantwortungsvolle Positionen doppelt zu besetzen. Ganz nach dem Motto „Zwei Köpfe wissen mehr als einer“ schafft man sich durch die Einholung doppelter Kompetenzen auf einer Position gleich doppelten Vorteil.
Doch leider reichen solche Maßnahmen alleine nicht aus. Es muss sich vor allem die innere Haltung ändern. Und dazu kann und sollte (!) jede*r einzelne*r im Unternehmen etwas beitragen. Denn dann gehören blöde Sprüche, schräge Blicke und das schlechte Image bald hoffentlich der Vergangenheit an.
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